Mitglieder der türkischen Moschee in Döttingen sammelten Geld und andere Hilfsgüter und reisten anschliessend in den Tschad, um Bedürftigen vor Ort zu helfen. Der VAM hat mit einigen Mitgliedern der Gruppe gesprochen und sie nach ihren Beweggründen und Erfahrungen gefragt.
Das Interview führte Hamit Duran, Vorstandsmitglied des Verbandes Aargauer Muslime (VAM) am 10. Februar 2020 in Döttingen.
Die Transkription des aufgenommenen Interviews erfolgte durch Ayman Duran, Turgi.
VAM: Wer hatte die Idee zu dieser Aktion?
Leyla G.: Mein Bruder, Gökmen Gökdemir, Präsident der Moschee in Döttingen, macht solche Aktionen schon seit ein paar Jahren, sei es in Afrika oder in asiatischen Ländern. Dabei werden Brunnen gebaut, Pflanzen gepflanzt, Hilfspakete übergeben etc.
Eine Schwester aus unserer Gemeinschaft fragte sich aber dann einmal, warum solche Aktionen nur durch Männer organisiert werden und keine Frauen mithelfen. Sie gelangte mit ihrem Anliegen an den Vorstand, der die Idee, dass sich auch Frauen aktiv engagieren möchten, wohlwollend aufnahm. Eine kurze Umfrage unter den weiblichen Mitgliedern der Moschee ergab dann, dass 10 Frauen bei der Organisation und Durchführung mitmachen wollten.
So kam es dann, dass insgesamt 10 Frauen und 14 Männer im Dezember 2019 in den Tschad reisten. Darunter waren 17 Personen von der Gemeinschaft in Döttingen, fünf von der Grünen Moschee in Aarburg und ein Ehepaar aus Zürich. Die Reisekosten wurden von den Teilnehmern selbst getragen.
VAM: Du hast erwähnt, dass euer Präsident bereits schon früher solche Hilfsaktionen durchgeführt hat. Hat er diese selber organisiert, oder hat er mit jemandem zusammengearbeitet?
Leyla G.: Er war zunächst aktiv in der Hilfsorganisation «Tut Elimi», die vor ca. 10 Jahren durch fünf Privatpersonen gegründet worden war. Gökmen engagierte sich dort während 7 bis 8 Jahren. Dieses Mal sagten wir uns aber, dass wir dieses Projekt im Namen unseres Türkischen Kulturvereins Döttingen durchführen möchten.
VAM: Wie habt ihr die ganze Aktion durchgeführt?
Leyla G.: Zunächst haben wir im Rahmen verschiedener Aktionen Geld gesammelt. Dabei kam mit Allahs Hilfe ein namhafter Betrag zusammen. Einen Teil haben wir innerhalb des erlaubten Rahmens bar mitgenommen, mit dem restlichen Teil haben wir Hilfsgüter beschafft wobei der Hauptteil davon in den Bau von Brunnen investiert wurde; denn Wassermangel gehört zu den Hauptproblemen im Tschad. Insgesamt liessen wir 49 Brunnen erstellen, wobei jeder davon rund 2000 Euro gekostet hat. Daneben haben wir Lebensmittelpakete, Kleider, Spielsachen für Kinder und einige Mushaf-Exemplare mitgenommen.
VAM: Warum der Tschad und nicht ein anderes Land?
Leyla G.: Wie vorher schon erwähnt hat mein Bruder Gökmen schon viel Erfahrung mit Hilfsaktionen sammeln können. Er meinte, mit einer so grossen Gruppe, inklusive der Damen, käme nur der Tschad in Frage, weil es dort relativ ruhig ist. Es ist kein Kriegsgebiet, es gibt fast keinen Terrorismus; es ist ein friedliches Land.
Ausserdem hatten wir vor Ort auch schon einige Beziehungen, was die ganze Aktion noch etwas erleichtert hat. Aber wir möchten solche Humanitätsprojekte mit Hilfe unseres Dachverbandes weiter durchführen. Das nächste Projekt ist im Niger geplant.
VAM: Mit wie vielen Personen und wie seid ihr in den Tschad gereist?
Leyla G.: Insgesamt waren wir 24 Personen; 14 Männer und 10 Frauen. Bis in den Tschad war die Reise, mit Zwischenstopp in Istanbul, recht angenehm. Als wir aber abends in der Hauptstadt N’Djamena ankamen, war das erste Gefühl, dass hier etwas anders ist. Wir wurden direkt zu einer durch eine türkische Gemeinschaft betriebenen Schule gebracht, wo wir das erste Abendessen einnehmen konnten. Nach einer kleinen Ruhezeit mussten wir uns bereits um Mitternacht wieder auf den Weg machen, da wir es sonst zeitlich nicht geschafft hätten. Wir hatten eine 430 km lange Reise vor uns, die uns von der Hauptstadt zu unserem Zielgebiet, der Region um die Ortschaft Rig Rig brachte. In Europa ginge so eine Fahrt vielleicht 3 – 4 Stunden, aber wir haben für die Strecke fast 12 Stunden gebraucht. Nach den ersten 180 km gab es keine Strassen mehr, es ging nur noch über Wüste. Wir hatten zum Glück 7 Fahrzeuge mit einem Top-Team an Fahrern zu Verfügung, die uns sicher an unser Ziel bringen konnten.
VAM: Mit wem habt ihr vor Ort zusammengearbeitet?
Leyla G.: Es gibt einen Bruder der bereits erwähnten türkischen Gemeinschaft, der dort immer anwesend ist. Mit seiner Hilfe konnten wir 3’500 Lebensmittelpakete beschaffen und verteilen.
VAM: Wo und wie habt ihr das Geld und die Hilfsgüter verteilt?
Leyla G.: Zu Beginn haben wir einige Brunnen in verschiedenen Dörfern eingeweiht. In den meisten Dörfern waren die Hilfspakete schon deponiert und ein Teil von den Dorfältesten an die Bevölkerung verteilt worden. Als wir ankamen, konnten wir den Rest der Hilfspakete sowie den Kindern Spielsachen verteilen. Wir haben die Verteilung der einzelnen Güter unter uns aufgeteilt.
VAM: Welche Kriterien haben bei der Verteilung der Hilfe eine Rolle gespielt? Waren es nur Muslime, die Hilfe erhalten haben?
Leyla G.: Ich kann das nicht faktisch beurteilen, aber mit meinen Erfahrungen habe ich das Gefühl, dass es in unserem Zielgebiet auch christliche Dörfer gab. Die Menschen in diesen Dörfern hatten einen etwas anderen Kleidungsstil. Statistisch weiss man, dass die Bevölkerung von Tschad zu 60% christlich ist, aber die Religion der Bevölkerung spielte für uns gar keine Rolle.
VAM: Hattet ihr persönlichen Kontakt mit den Bedürftigen?
Leyla G.: Wir haben alles, was wir mitgenommen hatten, selber verteilt. Mich persönlich hat es sehr getroffen, als wir den Leuten z.B. Süssgetränke in Plastikbeuteln anbieten wollten, sie aber nicht wussten, wie man ihn öffnet, weil sie so etwas noch nie gesehen hatten.
Die kleinen Kinder hatten teilweise auch Angst vor uns, haben geweint und sich zurückgezogen, da sie noch nie Menschen mit so heller Haut gesehen haben. Aber es war schön, das Lachen der Kinder zu hören, als wir für sie Ballons aufgeblasen haben. Den jungen Mädchen haben wir auch noch Haargummis verteilt, aber sie wussten nicht, wie sie diese benutzen können.
VAM: Habt ihr auch auf die Nachhaltigkeit eurer Hilfe geachtet?
Murat G.: Vor allem bei der Beschaffung der Brunnen haben wir darauf geachtet, dass die Teile leicht zu ersetzen sind. Falls etwas beschädigt werden sollte bei einem Sturm oder ähnlichem kann der Brunnen recht schnell wieder instand gesetzt werden.
Leyla G.: Wir haben auch Vorrichtungen installieren lassen, dass, falls es bei Regenfall zu einem Überfluss an Wasser kommt, das Wasser gespeichert werden kann und nicht direkt verdunstet.
VAM: Gibt es besondere Erlebnisse, die ihr gemacht habt? Gibt es Erfahrungen, die euch für die Zukunft geprägt haben?
Leyla G.: Am zweiten Tag, wo es besonders heiss war, waren wir in einem Dorf, wo wir eine Dame mit einem kleinen Jungen trafen. Ich habe dem Jungen ein kleines Biskuit geben, und kurz darauf hat er drei ganze Pakete davon verschlungen. Als ich einen kleinen Krümel fallengelassen hatte, hat er sich direkt darauf geworfen. Es war deutlich klar, dass dieses kleine Kind extrem Hunger hatte.
Auch hat mich sehr bedrückt zu sehen, dass die Kinder aufgrund des fehlenden Wassers ihre Gesichter nicht waschen konnten und deshalb um die Augen ständig Fliegen umhergeschwirrt sind.
VAM: Plant ihr weitere derartige Aktionen?
Leyla G.: Wie bereist erwähnt, planen wir als nächstes eine Hilfsaktion für Niger. Am 18. April 2020, also noch vor dem Ramadan, planen wir dazu eine Benefizveranstaltung, inklusive einer Fotoausstellung zu unserer Tschad-Hilfsaktion, in der Turnhalle der Primarschule Döttingen. Weiter Informationen werden zu gegebener Zeit bekannt gegeben.
[Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der aktuellen Situation rund um die COVID-19-Pandemie musste dieser Benefizanlass leider abgesagt werden. Anstelle dessen arbeitet die Moschee Döttingen an einem neuen Projekt, bei der es um den Aufbau eines Waisenhauses auf den Philippinen geht. Weitere Informationen werden zu gegebener Zeit folgen]
VAM: Wir möchten euch nochmals zu dieser Aktion gratulieren und uns ganz herzlich für das Interview bedanken.
Leyla & Murat G.: Auch wir bedanken uns ganz herzlich.
Sükrü, der Sohn der Familie Gökdemir, der ebenfalls zusammen mit seinen Eltern in den Tschad gereist ist, hat uns einige Bilder zur Verfügung gestellt, die sie in dieser Bildergalerie einsehen können.